Steigende Ausgaben, sinkende Qualität – Deutschlands Gesundheitswesen vor dem Kollaps. Trotz steigender Investitionen bleibt der medizinische Nutzen vieler Leistungen fraglich. Die neue Bundesregierung hat Reformen angekündigt, doch grundlegende Probleme bleiben ungelöst. Eine nachhaltige Lösung erfordert unpopuläre, aber realistische Entscheidungen.
Inhaltsverzeichnis:
- Deutschlands Spitzenplatz bei Ausgaben und Arztbesuchen
- Fehlanreize und mangelnde Steuerung
- Vorschläge von Augurzky und Karagiannidis
- Sozial gestaffelte Selbstbeteiligung und QALY-System
- Widerstand erwartet – Regierung darf nicht ausweichen
Deutschlands Spitzenplatz bei Ausgaben und Arztbesuchen
Deutschland gibt 12,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus – mehr als jedes andere Land in Europa. Gleichzeitig liegt die durchschnittliche Lebenserwartung unter dem EU-Durchschnitt. Fast zehn Arztbesuche pro Kopf und Jahr sowie eine hohe Zahl an Krankenhausbetten deuten auf eine intensive Nutzung des Systems hin, ohne dass dies mit besserer Gesundheit einhergeht. Die Zahl gesunder Lebensjahre ist gering.
70 Prozent der Krankenhäuser schreiben Verluste. Immer mehr Geld fließt in wenige, extrem teure Arzneimittel. Die Belastung durch eine alternde Bevölkerung steht erst bevor. Gleichzeitig explodieren die Kosten weiter. Qualität und Effizienz stagnieren.
Fehlanreize und mangelnde Steuerung
Das eigentliche Problem ist nicht ein Mangel an Geld, sondern ein Mangel an Struktur. Ein unkontrollierter Zugang zum Gesundheitssystem sowie ein Vergütungssystem, das Masse statt Qualität belohnt, führen zu Fehlanreizen. Politische Entscheidungsträger vermeiden unpopuläre Reformen.
Während andere europäische Länder längst auf Digitalisierung und Primärversorgung setzen, hinkt Deutschland hinterher. Die Einführung der elektronischen Patientenakte kommt Jahre zu spät. Statt Fortschritt gibt es Bürokratie und Kosten ohne Effekt.
Vorschläge von Augurzky und Karagiannidis
In ihrem Buch „Die Gesundheit der Zukunft: Wie wir das System wieder fit machen“ stellen der Gesundheitsökonom Boris Augurzky und der Intensivmediziner Christian Karagiannidis mehrere konkrete Maßnahmen vor:
- Spezialisierung von Kliniken zur Effizienzsteigerung.
- Abbau von Bürokratie im gesamten Gesundheitssystem.
- Digitalisierung zur besseren Versorgung und Datenverfügbarkeit.
- Kostensenkung bei Arzneimitteln durch gezielte Regulierung.
Besonders hervorzuheben sind zwei konkrete Vorschläge.
Sozial gestaffelte Selbstbeteiligung und QALY-System
Die Einführung einer einkommensabhängigen Selbstbeteiligung soll die Übernutzung des Systems begrenzen. Patientinnen und Patienten sollen pro Jahr maximal ein Prozent ihres beitragspflichtigen Einkommens selbst tragen, höchstens 661,50 Euro. Das betrifft nicht jeden gleich, sondern richtet sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
Gleichzeitig fordern die Experten eine systematische Nutzenbewertung medizinischer Maßnahmen. Grundlage soll das sogenannte QALY-System sein (quality-adjusted life year), bei dem Kosten, Lebensverlängerung und Lebensqualität gemeinsam bewertet werden. Besonders teure Therapien sollen mengenmäßig begrenzt werden. Diese Praxis ist in anderen Ländern wie Schweden oder Großbritannien längst etabliert.
Widerstand erwartet – Regierung darf nicht ausweichen
Die Vorschläge sind umsetzbar und in anderen Gesundheitssystemen längst Realität. Trotzdem ist mit Widerstand zu rechnen – auch von politischer Seite. Populistische Debatten könnten Reformen verzögern. Doch ohne mutige Entscheidungen wird das System weiter in die Krise rutschen.
Die Fakten sind eindeutig: Das deutsche Gesundheitssystem ist teuer, ineffizient und nicht zukunftsfähig. Um die Versorgung auch künftig zu sichern, braucht es ehrliche Debatten und entschlossenes Handeln. Nur dann können Patientinnen und Patienten auch in Zukunft auf ein verlässliches System zählen.
Quelle: Handelsblatt